Meine Märchen - Der Aquamarin
Der Aquamarin
Es war einmal eine Schriftstellerin, die erst sehr spät zum Schreiben gekommen war. Sie las leidenschaftlich gerne und musste bei jedem Buch denken: „Das hätte ich auch hingekriegt! Einfach nur zu beschreiben, wie sich jemand vor dem Spiegel aufreizend auszieht oder genüsslich bis gierig eine Zigarette in einer Bar raucht, wie trivial.“ Aber vielleicht musste man auch das beschreiben, wenn man ein Buch mit zwei-, dreihundert Seiten füllen wollte. Doch hätte sie wiederum soviel zu sagen, dass sie andere damit nicht langweilte oder schlimmer noch, belehren wollte?
Sie lebte in einer Scheune am Meer. Dort war es so hellhörig, dass man die Rufe der Wale hören konnte. Fast. Aber sie war geräumig, genauer gesagt bestand sie nur aus einem einzigen, riesigen Raum. Die Stirnseite bildete das große Scheunentor, dessen Holz sie durch Glaselemente hatte ersetzen lassen. Das neue Tor ließ sich genauso weit öffnen wie das ehemalige Holzscheunentor. Die gegenüberliegende Wand war komplett mit Bücherregalen bedeckt, in denen alle Bücher standen, die sie schon mindestens einmal gelesen hatte. Rechter Hand vom Scheunentor nach Osten lag die Küche, linker Hand nach Westen hatte sie einen Alkoven als Schlafinsel ausgebaut. Ein riesiger Esstisch mit einer Eichenholztischplatte aus einem einzigen Stück Holz war der Blickfang in und das Zentrum der Scheune. Umringt von vielen unterschiedlichen Stühlen und Stuhlsesseln lud er nicht nur zu opulenten Essen ein, sondern auch einfach nur zum stundenlangen Sich Hinsetzen, Reden und Zuhören. Der Blick konnte dabei durch das große Scheunentor nach draußen schweifen.
Sie liebte es, immer dann langsam zu sein, wenn sie keine Eile zu haben brauchte. Und das war jetzt fast immer, seit sie sich der Schriftstellerei ganz widmete. Vorher war sie die Hektik in Person, Multitasking war ihre Devise. Immer alles sofort, genau in dieser Reihenfolge: IMMER – ALLES – SOFORT. Sie ging damit vielen auf die Nerven, die dieses Tempo nicht mithalten konnten. Viele Freunde verlor sie dadurch bzw. hat sie deshalb nie kennen gelernt. Schriftstellerei bedeutete heute für sie, Menschen, Dinge, Zusammenhänge zu beobachten, sie analysieren und zu werten, sich Notizen dazu fest zu halten und alles Wahrgenommene in neue Zusammenhänge zu bringen. Und vor allem schätzte sie mit großer Dankbarkeit, Zeit zu haben und sich Zeit zu nehmen und sich Zeit zu lassen für einen kreativen Prozess.
Früher konnte sie nur in großen persönlichen Krisen kreativ sein, wenn das Leben selbst sie zwang, inne zu halten, sich zu hinterfragen und eine neue Balance zu schaffen. Dann konnte sie Briefe schreiben, Gedichte verfassen, durch ihren Zynismus zu Hochform auflaufen. Heute trieb das Leben auf sie zu, sobald morgens die Sonne aufging, während sie mit einer frisch gebrühten Tasse Tee in ihrer Küche stand und in die schwindende Dämmerung hinaus ihre Gedanken schickte.
Eines Tages, sie stand gerade wieder so versonnen in ihrer Küche mit ihrer Lieblingstasse in der Hand, einem blau-weißem, kleinkariert gemusterten Kaffeebecher -, sah sie draußen zwischen den Grasbüscheln sich etwas bewegen. Eher hüpfend als gehend, ganz leuchtend, vermutlich gelb. Sie musste sich einige Augenblicke gedulden, bis die Sonne über den kleinen Hügel kam und alles in ihr rosa goldenes Licht tauchte. Mit dem ersten Sonnenstrahl saß ein kleiner gelber Frosch auf ihrer Fensterbank. Er brauchte dringend Hilfe, da er ganz außer sich zu sein schien. Total verrannt versuchte er, durch die Glasscheibe weiter zu hüpfen und schlug sich dabei immer nur wieder seinen gelben Kopf an.
Die Schriftstellerin ging nach draußen, um nach der armen Kreatur zu sehen. Sie machte sich viel aus Gottes Mitgeschöpfen, wenn auch keines ein Mitbewohner von ihr war; das lehnte sie aus hygienischen Gründen ab. Sie fing ihn fast an der Scheibe klebend ein. Behutsam nahm sie ihn in ihre Hände, er fühlte sich ganz kalt an trotz seines hitzigen Benehmens. Sie hörte ihn rufen, während er wie wild in ihren Händen tobte. So bewegte sie den Frosch ganz langsam zum Ohr, da sie ihren Sinnen doch nicht recht traute. Hatte er tatsächlich gesprochen, oder stellte sie sich das in ihrer Fantasie nur vor? Er tobte weiterhin in ihren Händen und hätte er Zähne oder Krallen gehabt, hätte er sie sicherlich benutzt.
Doch jetzt – tatsächlich – hörte sie ihn brüllen: „Lass mich los – ich bringe sie um – nein, besser ihn – oder doch besser gleich beide – lass mich los – ich muss sofort dorthin – lass mich los – ich darf keine Zeit verlieren, keine Sekunde mehr – solange sie dort noch zusammen sind – lass mich los ...…. .“ So ging es in einer Endlosschleife ohne Punkt und Komma in einem fort.
Vorsichtig trug die Schriftstellerin den kleinen gelben Forsch in ihre Scheune und öffnete ab und zu ihre Hände nur wenige Millimeter, damit er Luft zum Atmen bekam. Eigentlich hätte er rot und heiß sein müssen, so tobte er immer noch. Wie konnte sie ihn nur beruhigen, damit sie erfuhr, was wirklich los war? Das ganze Gewüte hörte sich wie ein Eifersuchtsdrama an.
Beherzt ließ sie ihn in ihr Spülbecken fallen und drehte augenblicklich den Wasserhahn auf. Darauf war er nicht gefasst gewesen, er schnappte nach Luft, die Augen quollen ihm fast aus dem Kopf. Er unterbrach sein Toben, seinen Redeschwall, seine Mordgedanken. Wie ein nasser Pudel ließ er sich wieder hochheben und erzählte unter vielen, vielen Tränen und nach vielen, von Schluchzen bedingten Pausen, dass seine Angebetete sich mit einem anderen liiert hatte. In seiner rasenden Eifersucht hätte er sie tatsächlich umbringen können, wäre dabei nicht auch sein Hirn gänzlich ausgeschaltet und die Scheune ihm im Weg gewesen.
Die Schriftstellerin versprach zu helfen, doch erst musste der schwere Esstisch und alle Stühle zur Seite geräumt werden, um den Teppich, auf dem alles gestanden hatte, frei zu legen. Sie packte den Frosch in ihre Jackentasche und nahm ihm vorher das Versprechen ab, während ihrer Reise kein einziges Wort zu sagen und am besten gleich auch an gar nichts mehr zu denken.
Der Teppich hob ab, und sie flogen durch das große Scheunentor hinaus in den Morgen. Wohin, das gab der Teppich vor, er wusste den Weg. Nur in ganz dringenden und schweren Fällen bemühte die Schriftstellerin den Teppich, den sie mal von Prinz Erkan als Geschenk erhalten hatte. Sie lächelte unwillkürlich, doch sie hielt sich nicht mit Gedanken an Prinz Erkan auf, das war eine andere, wenn auch wunderschöne Geschichte. Sie flogen lautlos durch die Lüfte und landeten schließlich an einem See.
Die Schriftstellerin rollte den Teppich rasch zusammen und versteckte ihn im dichten Schilf. Ein Blick sagte ihr, dass sie richtig waren. Jetzt brauchten sie nur noch Zeit. Sie holte den kleinen gelben Frosch aus ihrer Jackentasche und bedeutete ihn, er könne jetzt wieder reden, wenn es denn unbedingt sein müsse. Die Lösung seines Problems sei hier zu finden, er müsse allerdings alleine losgehen. Sie würde hier auf ihn warten, egal, wie lange es dauern würde.
Doch bevor der Frosch sich noch recht unentschlossen auf den Weg machte, kam eine weise Frau auf sie zu, die sich an den Frosch wandte mit den Worten: „Über sieben Brücken musst Du gehen und dann wirst Du sie sehen. Die Frau, die für Dich bestimmt ist und der Du bestimmt bist. Sie trägt einen solchen Ring am Finger.“
Sie zeigte ihm einem silbernen Ring mit einem großen, quadratischen Aquamarin und steckte ihm ihn an die rechte Hand.
„Und lass Deine Liebe reifen, damit die Leidenschaft sie am Leben erhält und nährt und sie weder erdrückt noch irgendwie sonst langsam oder schnell abtötet. Jetzt geh!“
An die Schriftstellerin gewandt sagte sie, als der Frosch längst ihren Blicken entschwunden war: „Hier, nimm diesen Ring und fliege wieder nach Hause. Du musst allerdings noch ein paar Jahre auf ihn warten.“
entstanden am 6.3.1998
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