Meine Märchen - Die Erfinderin
Die Erfinderin
Es war einmal eine Erfinderin. Sie lebte in einer verlassenen Gegend, da sie die Abgeschiedenheit brauchte, um neue Ideen zu entwickeln und andere fortzuführen. Wenn sie ein neues Projekt im Kopf hatte, lief sie oft tagelang durch die Wälder, über die Wiesen und Hügel, grübelte nach und war ganz in sich gekehrt. Dabei genoss sie das Laufen bei Wind und Wetter und erklärte immer wieder, dass ihr der Wind den Kopf kühle beim Denken und unfruchtbare Gedanken verwehe. Dass es dabei auch oft regnete oder schneite, wenn sie unterwegs war, störte sie nicht. Denn, so sagte sie sich, seien ihre Arbeiten ja auch nicht nur fürs schöne Wetter gedacht, sondern müssten auch Stürme aushalten.
Im Haus selbst bewahrte sie deshalb auch nicht ihre Arbeiten auf. Sie standen wild verstreut draußen im Garten herum. Da war das große Windrad, das ihr den Antrieb lieferte für die Kornmühle und das Licht im Haus, daneben standen die Orgelpfeifen, in denen sich der Wind fing und je nach Wetter und Windstärke liebliche Vogelstimmen imitierte oder einen wilden Gesang von Sturmvögeln oder einer Meute Papageien, die in ihrem Mittagsschlaf gestört wurden.
Sie liebte es über alle Maßen zu reisen. Gerade weil sie in einer so verlassenen Gegend lebte, wo sie alles der Natur abtrotzen musste und doch die Natur ihr bester Freund blieb, hatte sie von Zeit zu Zeit eine unstillbare Sehnsucht, anderes zu sehen und Menschen zu treffen. Meist brachte sie von diesen Reisen neue Ideen mit, die sie dann monatelang beschäftigten. Sie liebte es, sich selbst Projektaufgaben zu stellen und dafür nicht nur eine Lösung zu finden.
Sie selbst hatte sich ihr Leben einfach eingerichtet. Nur die notwendigsten Möbel – Tisch, Bett, Stühle, ein Regal. In der Küche ein Holzofenherd, in dem sie ihr eigenes Brot backte und auf dem sie das Gemüse aus dem Garten zubereitete. Fleisch gab es fast nie, es sei denn, der eine Freund oder die eine Freundin brachten bei ihren Besuchen welches mit. Dann saßen sie lange zusammen und redeten oder schwiegen auch gemeinsam, um dann wieder darüber zu diskutieren, worüber sie gerade nachgedacht hatten.
Ihre Reisen plante sie lange im Voraus. Meist merkte sie schon seit Monaten, dass wieder so eine Unruhe in sie kam und es Zeit werden würde, ihr Bündel zu packen und das Haus zu verschließen. Im Herbst darauf war es dann immer soweit. Sie informierte ihre Freunde, damit sie sich keine Sorgen machten und ging. Diesmal wollte sie nicht zu Fuß gehen, denn ihr Ziel lag viel weiter weg als sonst, und sie wollte im Frühjahr wieder zu Hause sein.
Sie war erst ein paar Tage unterwegs und genoss die fremden Landschaften, die an ihr vorbei fuhren, die fremden Geräusche und Stimmen der Menschen um sie herum. Die Erfinderin war neugierig auf alles, was ihr zu Augen und Ohren kam. Sie nahm es in sich auf wie ein Schwamm. Manchmal machte sie auch Notizen oder schrieb nur ein Stichwort auf, damit sie sich bestimmt daran erinnern würde, wäre sie wieder daheim.
Da, eine Morgens, der Zug hielt gerade in einem kleinen Bahnhof, sah sie einen Menschen, der von einer Gruppe anderer Leute dicht umringt war. Sie sah erst nicht viel von ihm, nur dass seine Kleidung immer wieder die Sonnenstrahlen auffing und wie Lanzen zurück warf. Sie konnte sich gar nicht erklären, was das wohl sein könnte. Sie trat näher ans Fenster, öffnete es und lehnte sich weit hinaus. Die Leute schienen ihn zu beschimpfen oder aber auch zu feiern, ganz klar wurde ihr der Krach und das Gelärme in der fremden Sprache nicht.
Jetzt erkannte sie auch, was dieser Mensch trug – eine Ritterrüstung. Wie seltsam! Hier und in dieser Zeit ein Ritter, wo kam er her, war Fasching oder ein Mittelalterliches Fest oder gar ein Kindergeburtstag? Sie konnte es sich nicht beantworten, wollte es aber unbedingt wissen. So eine riesige Neugierde hatte sie schon lange nicht mehr verspürt. Die Erfinderin packte also rasch ihr Bündel, verließ den Zug und näherte sich im Laufen der Menschenansammlung.
Jetzt erst registrierte sie, dass die Leute um den Ritter herum doch mehr oder weniger offen wütend waren. Sie redeten auf ihn ein, fuchtelten mit Armen und Beinen, machten Zeichen und wilde Gesten. Er stand fast unbeweglich da, irgendwie traurig sah er aus, hilflos. Sein Gesicht war kaum zu erkennen, das Visier war halb herunter geklappt. Immer, wenn ihn jemand berühren wollte, zuckte er zurück, konnte aber aus dem Kreis nicht heraus.
Die Umstehenden verliefen sich allmählich. Da er nicht auf ihre gut gemeinten Fragen einging, auch nicht auf ihre Drohungen, verloren sie nach und nach das Interesse an diesem Sonderling.
Der Zug war längst abgefahren, die Menschen ihrer Wege gegangen. Der Ritter stand auf dem Bahnsteig, die Erfinderin saß auf ihrem Bündel neben ihm. Sie hatte sich alles in Ruhe angeschaut und sich so ihre Gedanken gemacht. Der Ritter hatte sie erst bemerkt, als ihm bewusst wurde, dass er beobachtet wurde.
Er warf ihr einen Blick zu, indem er das Visier hochschob und zuckte dann mit den Schultern. Auch die Erfinderin zuckte mit den Schultern, lächelte dabei. „Ein schöner Morgen ist heute“, sagte sie. Er nickte leicht mit dem Kopf. „Hast Du Hunger? Ich habe noch nicht gefrühstückt.“ Wieder nickte der Fremde mit dem Kopf. „Vielleicht kann er nicht reden“, dachte die Erfinderin, „ er hat bisher noch keinen Ton von sich gegeben.“
Sie stand auf, packte aus ihrem Bündel eine Thermoskanne aus mit Kaffee und dazu noch paar belegte Brote. In seiner Rüstung konnte sich der Ritter kaum bewegen, deshalb reichte sie ihm den Kaffeebecher an die Lippen und fütterte ihm mit dem Brot. „Merkwürdig, seltsam“, dachte sie dabei immer wieder, „aber vielleicht komme ich doch noch dahinter.“
Wieder fiel ein Sonnenstrahl auf seine metallene Rüstung, gleißend hell schoss er davon zurück in den Himmel. „Das muss was ganz Besonderes sein, so eine fokussierte Reflexion habe ich noch nicht gesehen“, arbeitete es in der Erfinderin, und packte den Ritter im nächsten Moment instinktiv am Handgelenk. Eiskalt war das Metall.
Wieder fiel ein Sonnenstrahl auf seine metallene Rüstung, gleißend hell schoss er in den Himmel. Sie wünschte sich sehr, dass diese gebündelte Kraft ihm in irgendeiner Weise nutzen könnte. Wie von einem Magneten gezogen erhoben sie sich beim Eintreffen des nächsten Sonnenstrahls in die Lüfte, den Sonnenstrahl als Vehikel und Fahrbahn.
Sie landeten schließlich an einer Quelle, ganz behutsam wurden sie dort abgesetzt. Fast wie auf einer Rutschbahn schlitterten sie auf dem Sonnenstrahl hinunter ins weiche Gras. Die Quelle sprudelte gurgelnd zwischen weißen Kieselsteinen hervor, ringsum war ein Blütenmeer, über dem Schmetterlinge in der Sonne schaukelten. Vögel zwitscherten vergnügt.
Die Erfinderin sah sich genauestens um, vor allem nach ihrem rätselhaften Begleiter. Der Ritter lag ausgestreckt auf dem Rücken auf der Wiese, seine Rüstung schmolz wie Schokolade in der Sonne. Sie sah gebannt diesem Schauspiel zu. Dann robbte der Ritter – oder was war er ohne seine Rüstung? - ein Mensch. Dann robbte dieser Mensch auf die Quelle zu und trank in kräftigen Schlucken das erfrischende, sprudelnde Nass. Still saß sie da, schaute nur und staunte.
Sie verstand nicht, was hier passierte und passiert war. Und was sie damit zu tun hatte. Doch sie nahm es hin, stellte keine Fragen. Da drehte sich der Mensch um, schaute sie lange an und lächtelte dann und wann, schaute dann wieder ernst, aber freundlich. „Danke“, schien er zu sagen mit den Augen, mit seinem ganzen Körper, „einfach danke. Mein herzlichen Dank dafür, dass Du mich sein lässt, wer ich bin und keine Fragen stellst und Antworten forderst, die ich Dir nicht geben kann.“
Die Erfinderin stand langsam auf, legte dem Fremden die Hand auf die Schulter zum Abschied und war sich sicher, dass sie noch lange an sreignis zurückdenken würde. Vielleicht würde sie eines Tages auch ganz verstehen, was sie ihm mit ihrer puren anspruchslosen Anteilnahme getan hatte.
wahrscheinlich von 1996
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