Meine Märchen - Die Fischerin, die Hexe und der Vollmond
Die Fischerin, die Hexe und der Vollmond
Es war einmal eine Fischerin, die auf einer Insel lebte. Grün war die Insel, voller Blumen, Bäume und Leben. Die Vögel sangen von früh bis spät, die Luft war lau und aromatisch von würzigen Kräutern und duftenden Blumen. Sie liebte es zu lesen. Immerzu hatte sie irgendetwas Lesbares dabei; morgens, wenn sie ihren Kaffee trank, durfte die Tageszeitung nicht fehlen, und auch später am Tag, wenn sie in ihrem Boot saß und darauf wartete, dass ihre Netze sich füllten. Bis spät in die Nacht brannte ihr Öllicht, wenn sie von ihrer Lektüre gefesselt war.
Dann fuhr sie am nächsten Morgen besonders gerne raus aufs Meer, um im Schaukeln ihres Bootes zu dösen und über das Gelesene nachzudenken oder davon zu träumen. So träumte sie oft die Leben nach, die ihre Hauptfiguren in ihren Roman führten. Mal war sie eine große Sängerin, mal eine berühmte Ärztin, die mit spektakulären Operationen und heilenden Händen den Kranken und Hoffnungslosen Hilfe brachte. Nicht, dass sie mit ihrem Leben unzufrieden war, nur wünschte sie sich oft, ab und zu eine ganz andere zu sein.
Eines Tages, sie war gerade bei ihrer Hütte und reparierte ihr Netz, da traf eine Hexe bei ihr ein. Dass die gut aussehende junge Frau eine Hexe war, erzählte diese ihr selbst in dem ersten Gespräch. Begeistert nahm die Fischerin sie auf. Die Hexe war unterwegs, weil sie ihre Grenzen kennenlernen wollte. Sie war bei einer guten Lehrmeisterin ausgebildet worden – der besten, die sie hatte finden können. Sie hatte nun seit einiger Zeit das ein oder andere ausprobiert, doch noch kein klares Ziel, keine herausfordernde Aufgabe vor Augen.
Da vertraute ihr eines Tages die Fischerin ihre Tagträume und den sehnlichsten Wunsch an, ab und zu in ein anderes leben schlüpfen zu können. Die Hexe hörte aufmerksam zu und ließ mit keinen Augenzwinkern erkennen, dass sie schon eine Idee hatte, wie sie das ihrer Freundin ermöglichen könnte. Seit diesem Bekenntnis streifte die Hexe immer öfter durch die Heide und Wälder der Insel, um Kräuter und bestimmte Pflanzen zu suchen, die sie für ihre neue Rezeptur brauchen konnte.
Wochen-, monatelang war sie unterwegs, sammelte, trocknete, kochte und mischte, sammelte weiter, trocknete, köchelte und mischte immer wieder, schlug in ihren Zauberbüchern nach, bis eines Vollmondnachts ein köstlicher Duft durch die Hütte zog und die Fischerin aus dem Bett lockte.
Die Hexe war mit Feuereifer bei ihrer Hexerei, hatte vor Freude über ihr Werk rote Apfelbäckchen und leuchtende Augen. Als ihr irgendwann die Fischerin im Türrahmen auffiel, erschrak sie heftig, weil sie sich so unbeobachtet gefühlt hatte. Sie bat die Fischerin jedoch, noch nichts zu fragen, sondern Platz zu nehmen und abzuwarten.
Dann war es soweit. Ganz unvermittelt fragte die Hexe aus ihrem Tun heraus ihre Freundin, die Fischerin: „Willst Du, dass Dein Wunsch Wirklichkeit wird?“ Die Fischerin schaute ganz verwundert, sie konnte gar nicht erfassen, was ihre Freundin damit meinen könnte. Sie hatte sie zwar schon des Öfteren beim Brodeln von Zaubermittelchen gesehen, doch hatte bisher alles nichts mit ihr zu tun gehabt. „Willst Du ab und zu ein anderes Leben führen können?“, fragte die Hexe nach. „Wie?… Was?… Wäre das denn möglich?“, stammelte die Fischerin und schwankte zwischen aufkeimender Freude und packender Angst. Das begeisterte, nachdrückliche Kopfnicken ihrer Freundin verstärken diese widerstrebenden Gefühle nur noch. „Ja, doch, ja!“, meinte sie dann ganz entschieden. „Ich will es. Sag mir, wie soll das gehen? Doch sicherlich gefahrlos??“
„Ganz einfach“, antwortete die Hexe. „Du trinkst jetzt diesen Cocktail, und dann immer in der ersten Vollmondnacht kannst Du tun und lassen, was Du willst. Alle anderen um Dich herum werden davon nichts merken. Sie wissen nicht, dass Du nicht Du bist. Aber bevor die Sonne aufgeht, bist Du zurück!“ „Ist es wichtig, noch mehr darüber zu wissen?“, fragte die Fischerin voll Vertrauen. „Nur, wenn Du es möchtest. Ich kann es Dir auch jederzeit später erklären.“
Der Cocktail schmeckte herrlich, irgendwie so wie Insel roch und aussah. Schon während des Trinkens dachte sie an einen fliegenden Teppich, der sie in ein Schloss bringen würde lange vor unserer Zeit. Und da spürte sie schon die frische Nachtluft um sich herum, die Sterne blinkten am Himmel, der Mond warf breite Streifen silbernen Lichts über die Landschaft. Unter sich entdeckte sie die erleuchteten Fenster in der Fassade eines Schlosses. Im Ballsaal funkelten die Kronleuchter, die Musik spielte einen schwungvollen Wiener Walzer. Sie wünschte sich ein goldenes Ballkleid und musste unwillkürlich an Aschenputtel denken, das seine herrlichen Ballkleider vom Baum auf dem Grab der Mutter erhielt, um dann mit dem Prinzen die Nächte durch zu tanzen.
Und genauso spielte es sich dann auch ab. Der Prinz hatte nur noch Augen für sie und wehrte eifersüchtig alle anderen Verehrer ab. Als die Sonne ersten Boten ausschickte, eilte sie die Stufen des Schlosses herunter und verlor dabei einen Schuh. Hastig bestieg sie ihren Teppich und flog zurück in ihre Hütte auf der Insel.
Am nächsten Morgen war die Fischerin wie ausgewechselt. Gut gelaunt saß sie am Frühstückstisch und genoss ein Glas Sekt. Sie hatte ein verschmitztes Blitzen in ihren Augen. Sie berichtete der Hexe ihre Erlebnisse in allen Einzelheiten, und beide freuten sich mächtig über ihren Streich.
Die Fischerin war erstaunt darüber, wie viel Kraft sie aus dieser Vollmondnacht geschöpft hatte. Wenn sie wieder an einem Buch hing, ertappte sie sich dabei, zu überprüfen, ob sich das Gelesene in die Wirklichkeit überführen ließe. Doch am allermeisten dachte sie an „ihren“ Prinzen. Der, der immer noch mit dem Schuh in der Hand durch die Lande zog und verzweifelt nach seiner Besitzerin fahndete, und der ihr Herz berührt hatte.
In den nächsten Vollmondnächten machte sie Ausflüge auf die Bühnen der Welt als umjubelter Schlager- und Opernstar oder fand sich bei spektakulären Operationen und am Krankenbett wieder. Oft kehrte sie auch ins Märchenland zurück und lernte dort auch noch manch anderen Prinz kennen: den von Rapunzel, den von Schneeweißchen und Rosenrot, den von Schneewittchen und was weiß ich noch wen. Doch ihr Aschenputtel-Prinz rangierte in ihren Gedanken ganz oben. Erstaunt war sie schon, als sie wieder zum Ball erschien und dann nicht eiligst davon lief, bevor sie ihm versicherte, jetzt öfters vorbei zu schauen. Immer in der ersten Vollmondnacht.
Und so lebt die Fischerin glücklich in ihrer Hütte und merkte nicht, wie die Jahre vergingen. Der Aschenputtel-Prinz erhielt in den Vollmondnächten allerliebsten Besuch, den er schon sehnsüchtigst erwartete. Er behielt stets seine jugendliche Frische und wehrte eifersüchtig alle anderen Verehrer ab. Die Hexe war sehr zufrieden mit ihrem ersten großen Erfolg gewesen und war weitergezogen, um sich neue Aufgaben zu stellen.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute in den Vollmondnächten.
Für meine Schwester Ulrike im August 1995
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