Die Prinzessin und der Riese Bodo
Es war einmal eine Prinzessin, die in schwindelnder Höhe über den Köpfen der Zuschauer hinweglief, gewagte Sprünge machte und ab und zu absichtlich fast einen Schritt daneben tat. Sie mochte es, wenn ein Stöhnen und Ächzen durch die Leute ging und sie dann die Erleichterung spüren konnte, wenn sie wieder sicher und strahlend mit beiden Füßen auf dem dünnen, gespannten Seil stand. Da Publikum selbst war ihr gleichgültig, sie brauchte es nur zu ihrer eigenen Belustigung. Als Kind war sie ein richtiger Tolpatsch gewesen und hatte aus dieser Scham heraus angefangen, auf allem, was sich ihr bot, zu balancieren. Die heutige Perfektion war die Ernte harter Arbeit, die Leichtigkeit ihrer Ausführungen inzwischen ihre zweite Natur. Sie übte täglich, um diese Fitness zu erhalten.
Das Besondere war, dass sie jetzt in einem Einmachglas lebte. Sie war nicht freiwillig da hinein geraten, sondern vom Riesen Bodo vom Seil gepflückt worden. Der hatte sie schon oft verfolgt, sie war ihm aber jedesmal knapp entkommen. Doch diesmal war es ihm gelungen, sie zu fangen und in dieses Glas zu sperren. Stundenlang saß der Riese vor diesem Einmachglas, klopfte mit seinen dicken Fingern dagegen, wann immer es ihm gefiel. Dann hatte sie aufzuspringen, auf das Seil zu klettern und ihre Kunst vorzuführen – so, als ob sie immer noch hoch oben über den Köpfen der Leute ihre Pirouetten und Kapriolen vorführen würde. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich sogar dort wähnen und vergaß darüber den Riesen Bodo und ihr Einmachglas.
Träumen war ihre große Leidenschaft. Alles war dann möglich und noch viel, viel mehr. Sie konnte dann nicht nur perfekt Seil tanzen, sondern auch alles andere. Sie konnte staunen über fremde Landschaften und Lebewesen, sie malte sie sich in den schönsten Farben lebhaft aus. Bisher kannte sie nur die Wälder, Felder und Wiesen mit den Flüsschen und Bächen rund um ihr elterliches Schloss. Auch Fuchs, Hase und Luchs waren ihr wohlvertraut von den Jagden des Königs.
In ihren Träumen hörte sie das Meer rauschen, seine Wellen im Rhythmus ihres Atems an das Ufer schlagen. Sie hörte überall Vögel singen in den wunderbarsten Tönen und Melodien, wie Gesang von hohen Frauenstimmen, unterlegt von Harfen und Geigen. In ihren Träumen sah sie ihr Leben wie auf einer Leinwand. Ein Leben, das sie hier in ihrem Einmachglas nicht lebte. Und das sie auch zuvor nicht gelebt hatte. Sie lachte, sie weinte, sie freute sich dann, sie tanzte. Und vor allem war sie nicht allein und so einsam. Sie hatte Gesellschaft von Menschen, die ihr wohlgesinnt waren, mit denen sie befreundet war, mit denen sie tiefe, lange Gespräche führen konnte. In ihren Träumen war sie nicht durch einen Riesen auf das Seiltanzen reduziert, sie war alles.
Eines Tages kam nicht der Riese an das Einmachglas, sondern ein kleiner Junge. Erstaunt und auch ein wenig misstrauisch schauten sie sich durch das Glas hindurch an. Sie rief ihn an, durch die Öffnungen im Glasdeckel ein Seil zu ihr herab zu lassen, doch er schien sie nicht zu hören oder zu verstehen. Also machte sie entsprechende pantomimische Bewegungen, ganz langsam und sie wiederholte sie immer und immer wieder. In seinem Gesicht konnte sie nicht lesen, ob er sie verstand. Er schaute sie lange an, drehte sich dann um und lief weg. ‚Was sollte das denn?‘, fragte sich die Prinzessin verzweifelt. ‚Gerade sah es noch aus, als hätte ich zum ersten Mal jemanden gefunden, der mich hier herausholen könnte, und nun ist schon verschwunden!‘
Enttäuscht und fassungslos setzte sich die Prinzessin auf ihren Hocker nieder, vergrub ihr Gesicht in beiden Händen und weinte bitterlich. So bitterlich, dass sie selbst über diese Heftigkeit erschrak. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie allein sie die ganze Zeit, ihr ganzes Leben, gewesen war. Und jetzt nur noch ein dressierter Floh für einen Riesen in einem Einmachglas!
Ein leises Klopfen gegen das Glas ließ sie dann irgendwann aufschauen. Der kleine Junge war zurück mit einem Seil und einer Strickleiter, die er in vielen Anläufen und unter Aufwendung all seiner Kräfte schließlich mit dem richtigen Schwung auf dem Deckel des Glases zum Liegen brachte. Zum Glücl verhakte sie sich in den Löchern des Deckels, so dass er hochklettern und das Seil zur Prinzessin hinunterlassen konnte. Mit behenden Klimmzügen erreichte sie den Deckel des Glases, stellte sich breitbeinig darauf, breitete beide Arme aus, drehte sich wie wild vor Freude im Kreis und schrie beinahe, um so ihre neu gewonnene Freiheit zu begrüßen.
Erschrocken wich der Junge zurück. Die Szene sah er als überaus bedrohlich an. Doch auch er brauchte Hilfe, deshalb hatte er dieses Wesen aus dem Glas befreit. Also nahm er weiterhin seine ganze Courage zusammen und blieb vertrauensvoll in der Nähe der Prinzessin. Er brauchte Hilfe, weil er jemanden finden musste, der ihm wieder zu Hören und Sprechen verhelfen konnte. So lange war er dafür schon unterwegs, immer weiter hatte er sich immer wieder getrieben, bis hierher in den Harz. So weit war er gegangen, eine fremde Frau aus einem Glas zu holen. Vielleicht was die der Jemand, dieser bestimmte, besondere Jemand, der ihm helfen konnte.
Schon wollte sich die Prinzessin rasch entfernen, weg vom Einmachglas, weg vom Riesen Bodo, weg von diesem Jungen, der ihr irgendwie beschränkt vorkam. Redete nicht, glotzte nur und hielt sie beharrlich mit einer Hand fest. So hinderte er sie schon eine ganze Weile am Fortlaufen. Wieder kamen wohlbekannte Schamgefühle aus ihrer Kindheit hoch. Nicht wegen der Tolpatschigkeit von damals, sondern weil sie sich undankbar fühlte, diesmal dem Jungen gegenüber. Sie konnte nichts mit ihm anfangen, sie wollte nichts mit ihm zu tun haben.
Doch wie konnte sie ihn nur für total beschränkt halten, nur weil sie aus seinem fremdartigen Verhalten nicht schlau werden konnte und sie sich nicht miteinander verständigen konnten? Immerhin hatte er sie doch geschickt aus diesem Einmachglas befreit, und dafür könnte er einen berechtigten Grund haben. Sie gab seinem Ziehen nach und wandte sich ihm zu. Aus den vielen Gesten des Jungen reimte sie sich zusammen, dass er nicht Sprechen und Hören konnte und sehr froh war, sie gefunden zu haben.
Die Zeit drängte jedoch. Wer weiß, wann der Riese wiederkommen und sie dann vielleicht beide in das Glas sperren würde. Sie wussten nicht genau, wohin sie laufen sollten, doch Hauptsache mal in Richtung Sonnenuntergang gehen, entschied die Prinzessin. Dorthin hatte sie den Riesen sich noch nie entfernen sehen. Sonnenuntergang – das bedeutete nach Westen, dorthin, wo sie das Meer vermutete. Dorthin, wo das Ende der Welt war. Dorthin, wo es nicht weitergehen würde. Egal.
Der Junge ging mit ihr und zeigte keine Müdigkeit. Er schien ihr einfach zu vertrauen, wobei er sie dennoch nicht aus den Augen ließ. Wenn sie ruhte, ruhte auch er, immer eine Hand auf der ihren liegend, damit er spüren konnte, wenn sie sich erhob. Die Tage vergingen, die Wochen vergingen. Vom Riesen Bodo keine Spur, er hatte sie bisher noch nicht verfolgt, wie es schien.
Sie war nicht mehr allein, doch es war so anders, als sie
sich das in ihren Träumen vorgestellt hatte. Wo war das Lachen, das Tanzen, die
Freude? Musste sie erst ganz sicher sein, dass der Riese sie nicht verfolgte, um
die Freude dann auch tief empfinden und ausleben zu können? Den Jungen an ihrer
Seite beachtete sie oft nicht, spürte aber, dass er sich über ihre Gesellschaft
freute. War es das, was ihm schon genügte? Sie sah, dass er mit bewundernden
Blicken ihre kühnen Schritte auf dünnen Baumstämmen und schmalen Graten
verfolgte, wenn sie herumtänzelte und immer mehr ihre wiedergewonnene Freiheit
genoss. In diesen Momenten, wo sie die unterschwellige Bedrohung durch den
Riesen vergaß, schenkte sie ihm auch mal ein mitfühlendes Lächeln oder sogar ein
breites Grinsen. Es galt ihm als Mitgeschöpf, nicht als Publikum. Sein Gesicht
begann dann zu strahlen und vor Freude gluckste er auch schon mal.
Die Gegend, in der sie sich inzwischen befanden, konnte die Prinzessin nur als merkwürdig bezeichnen. Die Bäume trugen Blüten in allen Farben, die Früchte daran waren süß und überaus lecker. Sie liefen durch schulterhohes Gras, das samtweich ihre Haut streichelte. Insgesamt war die Landschaft wellig, so als hätte vor Urzeiten jemand mit einem großen Kamm hier durchgerecht und diese Wellen in gigantischen Bögen hinterlassen. Die Luft was frisch und frühlingswarm, die Sonne bewegte sich kaum am Horizont. Immer schien sie lau, sie zeigte keine Himmelsrichtung mehr. Und doch wurde es auch Nacht mit Millionen Sternen an einem klaren Vollmondhimmel. Die Zeit schien dahingehend eingefroren, dass sowohl immer Mittag als auch immer Vollmondnacht war. Dennoch bewegten sie sich in der Wellenkammgraslandschaft auf ein Ziel zu. Ein Ziel?
Eines Morgen weckte der Junge sie ganz aufgeregt. Schon lange brauchte er seine Hand nicht mehr auf die ihre zu legen, da er keine Angst mehr hatte, sie zu verlieren. Sie waren ein gutes Team geworden und verstanden sich auch ohne Worte. Die Prinzessin hatte viel Einfühlungsvermögen entwickelt und wusste, dass seine Aufregung einen guten Grund haben musste. Rasch stand sie auf, um ihm zu folgen. Er zeigte auf den größten Baum auf einem der Wellenkämme in der Nähe ihrer Schlafstatt. Erst erkannte sie nichts, doch dann sah sie die Rauchfahne eines kleinen Lagerfeuers. Dort kauerte jemand und sah zu ihnen her. Bald begann diese Gestalt zu winken, winkte sie zu sich her. Vorsichtig näherten sie sich dem Baum, unter dem eine alte Frau saß, die einen kleinen schwarzen Hund streichelte. In einigen Metern Abstand gingen auch die Prinzessin und der Junge in die Hocke und warteten ab. Sie beobachteten jede Regung der Alten und ihres Hundes ganz genau und waren sprungbereit zur Flucht, sollte das notwendig werden. Bald begann die Alte zu reden, und an dieser Stelle wurde ihre Stimme lauter und eindringlich:
„Es liegt eine wunderbare Heilkraft in der Seele der Natur.
Hier spürt die Stille jenseits von Gestern und Morgen.
Hier fühlt euch geliebt, so wie Ihr seid.“
Sie sah abwechselnd von einem zum anderen und sprach zur Prinzessin:
„In der Stille spüre die Herzensumarmung mit dir und allen anderen.
Und lass dich von deinen Träumen von deinem besseren Ich besänftigen.“
„Stimmt“, sagte der Junge mit rau belegter Stimme und strahlte die Prinzessin glücklich an. Deren Augen leuchteten, während sie den Worten der Alten lauschte. Ein langes Schweigen folgte.
Da bemerkte die Prinzessin einen goldenen Reif um den Hals des schwarzen Hundes. Sie erkannte ihn als Teil ihrer Krone, die sie verloren hatte, als der Riese sie vor langem vom Seil gepflückt hatte. Als sie ihn genauer fixierte, knurrte der schwarze Hund sie leise, aber durchdringend an. Die Alte hob beschwichtigend die Hand und befahl ihm sanft: „Ruhig Bodo, die Prinzessin hat in den letzten Monaten viel über sich und den Umgang mit Menschen gelernt.“
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie in Frieden, lachen, weinen und reden sie noch immer miteinander.
.png)