Meine Texte - Am Wasser
Eine Geschichte von Dezember 2019
Ich liege auf meiner Matte, eine Rolle unter den Kniekehlen, mollig zugedeckt, im Meditationsraum, um die zehnte Räuchermeditation meines Abos zu genießen. Der Raum ist schwer gefüllt mit Rauch, ich fühle durch meine geschlossenen Augen hindurch, dass kaum noch etwas zu erkennen ist. Patrick hat es mal wieder gut gemeint mit der Menge Räuchermaterial, das er auf die Holzkohle gehäuft hat. Noch folge ich der Stimme, die da spricht. Es ist die letzte Meditation in diesem Reigen, und es riecht nach Weihnachten. Die Mischung enthält Zimt, Koriander, Sternanis und Fichtennadeln. Sie soll wärmend, gemütlich, entspannend und schützend wirken.
Weihnachten, ja, Weihnachten. Was ist Weihnachten? Nun, Weihnachten ist für mich eine Mahnung, die Mahnung, noch mal neu anzufangen, verkörpert durch die Geburt Jesus. Sie steht für mich für einen Neuanfang. Anders als Ostern. Ostern hatte ich angefangen mit diesen Meditationen, weil ich einfach nicht mehr konnte, weil ich einfach keine Luft mehr bekam, weil ich nachts diese ständigen Panikattacken hatte. Ostern, ja, Ostern, mein Fest der Zuversicht. Dass ich doch noch das Ruder herumreißen kann und mich selbst aus dem Sumpf ziehe – so wie Mönchhausen das in seinen Lügengeschichten so wunderbar erzählt hat.
Weihnachten! Ich schweife ab. Ich möchte meine Gedanken ziehen lassen wie Wolken am Himmel. Leider habe ich den Faden der heutigen geführten Meditation verloren. Es geht um Selbstwert und Selbstliebe, ein Hype-Thema, das mich sonst außerhalb dieser Gruppe kalt gelassen hätte. Doch es ist der letzte Abend mit anschließendem Essen, und die Gruppe hat mir soviel gegeben, da will ich nicht fehlen.
Im Netz der Pausen zwischen den Worten habe ich mich längst verfangen. Es war eben noch die Rede von äußeren Stimmen, von Einredungen von Außen in der Vergangenheit, die zu meiner inneren Stimme wurden, weil ich ihnen glaubte. Soll ich darüber nachdenken? Ich fange an zu schweben in diesem Rauch, festliegend auf meiner Unterlage, wo ich eigentlich Wurzeln fühle, die mein Körper in den Boden getrieben hat. Der Rauch als dicke Luft ist durch meine Augen sichtbar, fühlbar, nicht nur riechbar, undurchdringlich. Die Wärme im Raum ist ein weiteres Element.
Jetzt habe ich Wasser… nein, kein Wasser. Ich habe Erde, ich habe Feuer, ich habe Luft. Da ist irgendein Gedanke, den ich noch nicht fassen kann, irgendein Gefühl tief innen in mir, aufwühlend, das mir Wärmeschübe durch den Körper jagt. Wasser! … Wasser! Ja, Wasser, das vierte Element, wo ist Wasser?
Habe ich Durst? Wieder kommt ein Fetzen der Stimme bei mir an ‚…..alles ist möglich, viel, viel mehr als du denkst...‘. Alles ist möglich. Nein, meine Welt ist eng geworden. So eng, wie wenn ich im Nebel am Bodensee stünde. Ein enger Horizont, ein Horizont, der fast gar nicht sichtbar ist, was jedoch den Blick auf das Naheliegende schärft. Hmh, Wasser, Wasser. Ich kann es riechen, ich kann es fühlen als Nässe in meinem Gesicht. Der Nebel hat sich auf alles gelegt. In diesem Nebel kann ich unsichtbar sein. Ich könnte schwerelos sein, wäre ich im Wasser, wäre ich unter Wasser. Ich könnte mich tragen lassen, Vertrauen haben. Ich könnte im Fluss sein, ich könnte mich einfach treiben lassen. Mit der Strömung, mit den Wellen mich selbst fortbewegen lassen. Abkühlen lassen, erfrischen lassen, neu geboren sein. Aus dem Wasser herauskommen wie aus einem Jungbrunnen. Und danach entspannter loslassen, wieder Wärme tanken in einer Thermalquelle. Herrlich.
Und jetzt, wo die Temperaturen schon lange unter Null sind, könnte ich über das Wasser gehen. Nicht wie Jesus, sondern mithilfe von Eis. Aber ich könnte über das Wasser gehen, obwohl ich unendlich Respekt davor, nein, Angst davor habe. ‚Atme tief ein, atme tief aus, wenn du ängstlich bist, dann hilfst du dir selbst‘, sagt dieses kleine Kinderlied. Glatteis kann doch auch etwas Wunderschönes sein. Schlittern, eislaufen, lachend das Gleichgewicht zu halten versuchen, keine Angst vorm Fallen haben. Sieh das Schöne, sieh die Sonne auf dem Eis glitzern, überall Eisblumen malen, sieh die neue ebene Weite, die vorher nicht da war.
Wasser. Wäre ich doch nur so mit allen Wassern gewaschen wie manch anderer, so abgebrüht! Nein, das wollte ich nie, eine kleine Schwindelei hier, eine weitere Beschönigung dort. Mein Weg ist ein anderer.
Jetzt weiß ich, was es ist. Wasser. Ich muss meine geschundene Seele waschen, das abwaschen, was sich dort verkrustet hat und nicht zu mir gehört. Und schon hab ich mich ertappt. Da ist wieder dieses Muss. Nein, ich möchte. Ich möchte…. Ich möchte neue Wasser-Wege gehen. Wasserwege. Wasserwege zu Lande. Wasserwege? Wasserwege!
Wasserwege, das geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Die folgenden Tage bin ich intensiv auf der Suche, was dieses Samenkorn ‚Wasserwege‘ des letzten Meditationsabends zu bedeuten hat. Was hatte ich noch gefühlt, als ich auf Wasserwege kam? Ostern. Weihnachten. Da ist ja noch der Dritte im Bunde: Pfingsten. Pfingsten mit seinem Feuer. Pfingsten, das sagt: Pack deine Projekte an, sie kriegen neue Energie. Pfingsten, den Aufbruch auch tatsächlich zu vollziehen.
Gut, also Pfingsten. Pfingsten werde ich aufbrechen, klasse, ich freue mich. Mensch, und jetzt reiche ich gleich meinen Antrag auf ein Sabbatical ein. Ein Jahr, ein Jahr für mich und meine Wasserwege. Ich will tatsächlich am Bodensee anfangen, dem Schwäbischen Meer, doch er gehört auch Österreich und der Schweiz. Da werde ich sicherlich auch abseits der Hauptwege viele kleine Wasserwege finden, entlang des Sees, entlang von Flüssen und den vielen kleinen Bächlein, vielleicht sogar die ein oder andere sprudelnde Quelle. Dort sein, wo festes Land und Wasser sich berühren, wo Steine glänzend ihre Schönheit offenbaren und sich murmelnd aneinander reiben.
Ich stelle mir vor, ich wandere los, entscheide frei und spontan, wie viel und wo ich gehe, will bei jedem Wetter draußen am Wasser sein. Ich will gehen, einfach nur gehen, auf der Suche nach dem Wasser, nach den Leuten am Wasser, mich dabei auch mal im Kreise drehen, Wege vor- und zurücklaufen, denn sieht nicht alles neu aus, wenn der Blickwinkel sich ändert?
Ich möchte mich überraschen lassen von dem, was ich finde. Gibt es hier noch Wasser, die sich bedenkenlos trinken lassen? Gibt es hier Leute, die mit und vom Wasser leben? Mit ihm kämpfen, es meistens genießen, die richtige Wasserratten sind? Da, wo ich herkomme, nennt man die Leute Wasserhinkel (Anmerkung: Hinkel = Huhn), denn unser Dorf wurde früher vom vorüber fließenden Fluss in der Zeit zwischen Fasching und Ostern oft durch sein Hochwasser überflutet. Deicharbeit, hier wird der Deich Damm genannt, war die Arbeit aller, um Schäden durch jährliche Überflutungen zu begrenzen. Geblieben vom Fleiß und Bangen der Wasserhinkel ist nur der Name, den die Alten im Land noch kennen. Der Fluß ist seit Jahrzehnten kanalisiert, parallel dazu verläuft im Tal die Autobahn. Beidseits gibt es Radwege, die vielleicht an manchen Stellen sogar auf alten Treidelpfaden liegen. Dennoch ab und zu ein Idyll mit Kormoranen, Wildgänsen und Fischtreppen.
Bächen und Flüssen ein Stück folgend, überquere ich dabei auch Brücken, eine weitere Art, über das Wasser zu gehen. Ob auch diese Brückenübergänge früher gut bewacht waren? Brücken als Verbindung zwischen linkem und rechtem Ufer, zwischen Menschen beider Talseiten, heben Trennung auf. Mensch und Tier leben hier anders als am See.
Überall Lernorte. Die Pfahlbauten der Steinzeit, Wasserschlösser und Festungen, der Rheinfall mit seiner existenziellen Wucht oder im idyllischen Tal des Harder Dorfbaches. Vergangene Zeugen von Zuflucht, Abschottung, Verteidigung, Macht, Kampf. Gegen Natur, gegen Tier, gegen Mensch, gegen und ums Wasser. Wie der Wasserstreit, der im Tal des Harder Dorfbaches der ehemals florierenden Textilindustrie ein jähes ökonomisches Ende bereitete.
Wasserstreit. So alt, wie die Menschheit selbst. Immer noch und überall auf der Welt wird heutzutage um Wasser gestritten, dabei heftiger im Ausmaß denn je. Ob in Afrika der Tschadsee oder in Asien der Aralsee nur noch Pfützen gleichen, ob für den Bau von Talsperren überall auf der Welt Zig-Tausende Menschen zwangsumgesiedelt und entwurzelt, Täler geflutet und Flüsse in ihrem natürlichen Lauf zerstört werden, ob bspw. die Israelis den Jordan übernutzen und in Jordanien nichts bleibt als ein Rinnsal, ob Megakonzerne Wasserrechte erwerben und somit den Zugang zum täglichen Trinkwasser abschneiden – die Liste ließe sich traurigerweise unendlich weiterführen.
Wasser, der Quell des Lebens. Wasser, ohne Wasser wäre die Erde nichts. Ich denke, am Umgang mit dem Wasser entscheidet sich die Würde des Menschen. Ist der Mensch, die gesamte Menschheit groß genug, sich selbst wie auch seine Mitgeschöpfe so zu lieben, dass eine intakte Umwelt sein höchster Wert würde? Denn am Wasser heißt nicht nur, ich lebe am Fluss, ich lebe am Meer, ich lebe an einem See, lebe vielleicht von diesem See, von diesen Fluss, von diesem Meer. Am Wasser heißt auch Regenwald. Am Wasser heißt auch Landwirtschaft. Am Wasser heißt auch, Ressourcen erhalten, sparen und teilen. Lebensbejahende Landwirtschaft und verantwortungsbewusste Verbraucher wirken mit allen Kräften Bodenerosion und Grundwasserverseuchung entgegen und bevorzugen natürliche Lebensmittel und sauberes Wasser. Regenwald ist nicht nur die Lunge der Welt, Produzent von Sauerstoff sowie Luft- und Meeresströmungen, sondern vor allem ein Produzent von Wasser für die ganze Welt.
Während des mehrmonatigen Gehens auf meinen Wasserwegen rund um den Bodensee habe ich die unterschiedlichsten Leuten erlebt, mit alten und jungen Einheimischen und Touristen gelebt und gesprochen. Manchen ist inzwischen klar, dass alles mit allem zusammenhängt, egal ob man nur temporär am Wasser Urlaub macht oder dauerhaft dort lebt und arbeitet. Jede Anstrengung, Natur zu wahren und sie Gebiete zurückerobern zu lassen, sowie freien Zugang zu den Ufern zu schaffen, wird wertgeschätzt. Vor allem die eigene, bedenkenlos verschwenderische Lebensweise ist zu ändern. Zeit für echte Taten, keine Reden mehr. Bei sich beginnen.
Inzwischen bin ich wieder zuhause angekommen und ruhe in der milden Herbstsonne an meinem Teich im Garten. Ich lebe also selbst am Wasser und sehe dies mit frischen Augen und offenem Herzen.
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Jahr um Jahr | |
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Mein Weihnachten mahnt: Hast alle Möglichkeiten, Mach endlich was draus. |
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Am, vom, mit Wasser. Wasser ist Erd-überALL. Durch Wasser. LEBEN. |
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Osterzuversicht. Scheitern als Weckruf und als Neubeginn versteh‘n. |
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Wasser als Labsal, Tau, Regen, Nebel, Eis, Schnee, Wasser ist. Wunder. |
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Pfingsten bringt Feuer, Liebe in mein Vorhaben, tu‘, was mir gut tut. |
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Wasser ist endlich. Wasser ist. Un-Unendlich. Wasser ist unendlichendlich. |
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